BGH, Urteil vom 07.02.2012 - VI ZR 63/11

Arzthaftung: Pflichtverletzung durch Unterlassen 

Tenor

1. Besteht die Pflichtverletzung in einer Unterlassung, ist diese für den Schaden nur dann kausal, wenn pflichtgemäßes Handeln den Eintritt des Schadens verhindert hätte. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt regelmäßig der Geschädigte.

2. Die haftungsbegrenzende Rechtsfigur des hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten kommt erst dann zum Tragen, wenn die Ursächlichkeit der durchgeführten rechtswidrigen Behandlung für den behaupteten Schaden festgestellt und mithin die Haftung grundsätzlich gegeben ist.

Gründe

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 10. Januar 2012 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 2. Februar 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagten für durch seine Geburt entstandene Gesundheitsschäden in Anspruch.

Die Mutter des Klägers suchte in der 25. Schwangerschaftswoche aufgrund der Überweisung mit der Therapieempfehlung "Tokolyse und Cerclage" durch den die Schwangerschaft betreuenden niedergelassenen Gynäkologen das örtliche Krankenhaus auf. Nach einer Erstversorgung wurde sie am 17. Mai 1993 in die Frauenklinik der Beklagten zu 1 verlegt. Dort wurden bis zum 19. Mai 1993 eine intravenöse Tokolyse und eine Celestan-Prophylaxe durchgeführt. Am 19. Mai 1993 untersuchte der Beklagte zu 2 die Mutter des Klägers zur Klärung der Indikation für eine Cerclage. Wegen einer Infektion wurde von der Cerclage abgesehen und strikte Bettruhe verordnet. Ab dem 24. Mai 1993 war die Infektion abgeklungen. Die bisherige Behandlung wurde trotzdem fortgesetzt. Am 30. Mai 1993 um 21.30 Uhr musste die Schwangerschaft durch sectio beendet werden. Der Kläger wurde um 22.26 Uhr in schlaffem, zyanotischem Zustand ohne Eigenatmungsbestrebungen geboren. Das Geburtsgewicht betrug 960 g bei einer Körperlänge von 38 cm und einem Kopfumfang von 26 cm. Der Kläger wurde in das Perinatalzentrum verlegt. Am 31. Mai 1993 trat bei ihm eine Hirnblutung 4. Grades auf. Der Kläger stützt, nachdem er anfänglich den Beklagten Behandlungsfehler angelastet hatte, nunmehr sein Schadensersatzbegehren auf eine wegen unterbliebener Aufklärung seiner Mutter über die Möglichkeit der Cerclage rechtswidrige Fortführung der konservativen Behandlung.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts abgeändert, den Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach zugesprochen und die Ersatz-pflicht der Beklagten für entstandene und künftig entstehende materielle Schäden unter Vorbehalt der auf Dritte übergegangenen Ansprüche festgestellt. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision begehren die Beklagten, das landgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt:

Die Behandlung der Mutter des Klägers sei jedenfalls ab dem 24. Mai 1993 wegen einer mangels ordnungsgemäßer Aufklärung unwirksamen Einwilligung in die Fortsetzung der konservativen Behandlung rechtswidrig gewesen. Zwar sei anfänglich eine Cerclage aufgrund der bei der Schwangeren aufgetretenen Infektion kontraindiziert gewesen. Nach dem Abklingen der Infektion wäre eine solche aber in Frage gekommen. Darüber hätte die Mutter des Klägers aufgeklärt werden müssen. Die konservative Behandlung einerseits und die Cerclage andererseits hätten unterschiedliche Chancen und Risiken mit sich gebracht und seien beide als Mittel in Betracht gekommen, den Frühgeburtsbestrebungen bei der Mutter des Klägers entgegenzuwirken. Die Cerclage habe die Möglichkeit einer Stabilisierung mit der Folge der Verlängerung der Tragezeit geboten. Allerdings hätten die Risiken einer Verletzung der Fruchtblase und des Wiederaufflammens der Infektion bestanden. Eine Tragezeitverlängerung sei bei der konservativen Behandlung, die eine geringere mechanische Stabilisierung geboten habe, nicht ausgeschlossen. Zwar habe der Sachverständige betont, dass er persönlich eine Cerclage auch in der Zeit ab dem 24. Mai 1993 wegen des hohen Risikos der Verletzung der Fruchtblase und der aus seiner Sicht fehlenden Vorteile gegenüber der konservativen Behandlung nicht vorgenommen hätte. Doch hätte die weitere Verfahrensweise unter Aufklärung über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten mit der Patientin besprochen werden müssen. Die insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten hätten nicht dargelegt und bewiesen, dass die Mutter des Klägers sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung für die Fortsetzung der konservativen Behandlung entschieden hätte. Aufgrund der persönlichen Anhörung der Mutter des Klägers sei plausibel, dass diese im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung über die zur Verfügung stehenden Behandlungsalternativen in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Die Behandlung der Mutter des Klägers sei dementsprechend jedenfalls ab dem 24. Mai 1993 nicht mehr von ihrer Einwilligung gedeckt und damit rechtswidrig.

Es sei auch davon auszugehen, dass die Frühgeburt des Klägers und die damit verbundenen gravierenden gesundheitlichen Schäden zumindest mit auf der rechtswidrigen Fortsetzung der konservativen Behandlung der Mutter beruhen. Mit dem konservativen Behandlungsregime sollte zwar den Frühgeburtsbestrebungen entgegengewirkt und erreicht werden, dass die Tragezeit so lange wie möglich verlängert würde. Dazu sei dieses Behandlungsregime allerdings letztlich nicht geeignet gewesen. Es sei vielmehr trotz des konservativen Behandlungsregimes zu der Frühgeburt des Klägers mit den damit verbundenen gravierenden Folgen gekommen. Der Annahme der Kausalität der rechtswidrigen Behandlung für den eingetretenen Schaden stehe nicht entgegen, dass die Geburt des Klägers auch bei Durchführung einer Cerclage möglicherweise bereits am 30. Mai 1993 eingetreten wäre. Insoweit liege die Annahme eines hypothetischen Kausalverlaufs im Falle des rechtmäßigen Alternativverhaltens zugrunde, für den die Behandlerseite beweispflichtig sei. Die Beklagten trügen das Beweisrisiko dafür, dass es auch nach einer Cerclage in gleicher Weise zu der Frühgeburt des Klägers gekommen wäre. Ein solcher Beweis sei nicht geführt. Der Beklagte zu 2 hafte für die Behandlung der Mutter des Klägers als verantwortlicher und an der Behandlung beteiligter Oberarzt. Die Beklagten hätten ihren erstinstanzlichen Vortrag, dass der Beklagte zu 2 die Klägerin ab dem 19. Mai 1993 nicht mehr persönlich untersucht und behandelt habe, nicht aufrechterhalten und nicht mehr in Abrede gestellt, dass der Beklagte zu 2 als zuständiger Oberarzt für die Behandlung der Mutter des Klägers auch nach dem 19. Mai 1993 verantwortlich gewesen sei.

II.

Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Das Berufungsgericht hat den Ursachenzusammenhang zwischen der infolge der unterlassenen Aufklärung rechtswidrigen, aber aus ärztlicher Sicht vertretbaren Fortsetzung der konservativen Behandlung der Mutter des Klägers und den geltend gemachten Schäden aufgrund einer unzutreffenden Zuweisung der Darlegungs- und Beweislast bejaht. Das rügt die Revision mit Recht.

a) Das Berufungsgericht hätte dem Vortrag des Klägers nachgehen müssen, dass bei Durchführung der Cerclage, in die seine Mutter bei pflichtgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte, die extreme Frühgeburt und die damit verbundenen gravierenden Gesundheitsschäden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wären. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich dabei nicht um die Behauptung eines hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten, sondern um Darlegungen des Klägers zur Kausalität der infolge der unterbliebenen Aufklärung rechtswidrigen Fortsetzung der konservativen Behandlung für den geltend gemachten Schaden. Nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen trägt dafür der Kläger und nicht die Beklagtenseite die Darlegungs- und Beweislast.

aa) Nach gefestigten Rechtsprechungsgrundsätzen trifft in den Fällen, in denen aus einem Aufklärungsversäumnis des Arztes Schadensersatzansprüche hergeleitet werden, die Behauptungs- und Beweislast für die ordnungsgemäße Aufklärung den Arzt. Der Patient trägt hingegen die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Schadensfolge, für die er Ersatz verlangt, auch wirklich durch den eigenmächtigen Eingriff des Arztes verursacht worden ist und nicht auf anderes zurückgeht (vgl. Senatsurteil vom 1. Oktober 1985 - VI ZR 19/84, VersR 1986, 183 und vom 13. Januar 1987 - VI ZR 82/86, VersR 1987, 667, 668; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 6. Aufl., Kap. C Rn. 147; Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 11. Aufl., Rn. 702 mwN). Der Beweis, dass der ohne rechtswirksame Einwilligung vorgenommene ärztliche Eingriff bei dem Patienten auch zu einem Schaden geführt hat, ist ebenso wie im Fall des Behand-lungsfehlers Sache des Patienten. Es besteht kein Sachgrund, bei Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht den Arzt insoweit beweismäßig schlechter zu stellen. Dieser Grundsatz gilt sowohl bei der Verletzung der ärztlichen Aufklä-rungspflicht über die Risiken eines Eingriffs wie auch über bestehende Behand-lungsalternativen (Selbstbestimmungsaufklärung). Der Patient hat nicht nur in den Fällen, in denen die rechtswidrige Behandlung in einem Eingriff, beispielsweise in einer Operation, liegt, sondern auch in den Fällen der rechtswidrigen Fortsetzung konservativer Behandlungsmethoden trotz Bestehens gleichwertiger Behandlungsalternativen zu beweisen, dass die bei ihm vorgenommene Behandlung ursächlich für den geltend gemachten Schaden geworden ist. Dies gilt auch dann, wenn - wie im Streitfall - Schadensersatzansprüche nicht aus der konservativen Behandlung hergeleitet werden, sondern daraus, dass weitergehende Behandlungsmaßnahmen unterblieben sind. Eine Unterlassung ist für den Schaden nur dann kausal, wenn pflichtgemäßes Handeln den Eintritt des Schadens verhindert hätte (vgl. BGH, Urteile vom 30. Januar 1961 - III ZR 225/59, BGHZ 34, 206, 215; vom 5. Juli 1973 - VII ZR 12/73, BGHZ 61, 118, 120 auch zur Umkehr der Beweislast im - hier nicht gegebenen Fall - eines groben Behandlungsfehlers; vom 19. Februar 1975 - VIII ZR 144/73, BGHZ 64, 46, 51; vom 22. März 1990 - IX ZR 128/89, WM 1990, 1161, 1163 und vom 17. Oktober 2002 - IX ZR 3/01, WM 2002, 2325, 2326 Rn. 11). Die bloße Möglichkeit, ebenso eine gewisse Wahrscheinlichkeit genügt nach § 286 ZPO nicht.

bb) Im Streitfall besteht die Pflichtverletzung in der Unterlassung der Beklagten, die Mutter des Klägers nach dem Abklingen der Infektion über die Behandlungsalternative einer Cerclage aufzuklären. Mithin hat der Kläger darzulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass bei pflichtgemäßer Aufklärung seiner Mutter mittels der Cerclage die Geburt in einer für seine Entwicklung maßgeblichen Weise verzögert und der durch seine frühe Geburt eingetretene Schaden vermieden worden wäre. Hierzu hat der Kläger vorgetragen, dass seine Mutter bei entsprechender Aufklärung sich ohne Zweifel für die Cerclage entschieden hätte. Bei Durchführung der Cerclage hätten die extreme Frühgeburt des Klägers und die damit verbundenen gravierenden Gesundheitsschäden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert werden können. Die Beklagten haben dem entgegen gesetzt, eine Cerclage hätte die Schwangerschaft nicht verlängert. Sie haben damit den Kausalzusammenhang bestritten (vgl. BGH, Urteil vom 17. Oktober 2002 - IX ZR 3/01, aaO Rn. 12).

cc) Dieser Vortrag kann nicht als Einwand eines hypothetischen Kausalverlaufs bei rechtmäßigem Alternativverhalten verstanden werden, was das Berufungsgericht irrigerweise angenommen hat. Ein solcher Einwand setzt die Feststellung voraus, dass das vom Schädiger zu verantwortende Verhalten für den Schaden kausal geworden ist (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 1995 - KZR 3/95, NJW 1996, 311, 312; Urteil vom 17. Oktober 2002 - IX ZR 3/01 aaO; Larenz, Schuldrecht Bd. I, 14. Aufl., S. 527; Staudinger/Schiemann (2005) BGB, § 249 Rn. 102, 107). Danach erst betrifft er die unter Umständen auftretende Frage, ob die auf der Pflichtverletzung beruhenden Folgen dem Schädiger billigerweise auch zugerechnet werden können (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juli 1992 - IX ZR 256/91, NJW 1992, 2694, 2695; vom 24. Oktober 1995 - KZR 3/95, aaO und vom 17. Oktober 2002 - IX ZR 3/01 aaO).

Darum handelt es sich hier nicht. Der Vortrag des Klägers bezieht sich auf die den Anspruchsgrund betreffende Frage der Kausalität. Dafür ist der Kläger nach allgemeinen Grundsätzen beweispflichtig, abgesehen von den Fällen der Beweislastumkehr wie beispielsweise bei einem groben Behandlungsfehler. Den Beklagten fällt hingegen die Beweislast für entlastenden Vortrag - wie etwa zum Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens - erst dann zu, wenn der Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und eingetretenem Schaden feststeht (vgl. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast Bd. I, 2. Aufl., Anh. § 282 BGB Rn. 30).

b) Das Urteil beruht mithin auf einer unzutreffenden Zuweisung der Darlegungs- und Beweislast. Richtigerweise obliegt es dem Kläger, darzulegen und zu beweisen, dass - nachdem das Berufungsgericht die hypothetische Einwilligung der Mutter in die Cerclage angenommen hat - nach der Cerclage die Geburt in einer für seine Entwicklung maßgeblichen Weise verzögert worden wäre. Für eine Verlagerung der Beweislast für den Ursachenzusammenhang auf die Beklagten ist insoweit kein Raum. Mit seiner Auffassung kann sich das Berufungsgericht auch nicht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 2005 (VI ZR 313/03, VersR 2005, 836 f.) stützen. Dort wurde aus prozessrechtlichen Gründen für das Revisionsverfahren unterstellt, dass die geklagten Beschwerden (entsprechend dem tatsächlichen Verlauf der Behandlung) zumindest mit auf der Fortsetzung der konservativen Behandlung beruhten (Senatsurteil vom 15. März 2005 - VI ZR 313/03, aaO unter 3. b aa). In dem von der Re-visionserwiderung herangezogenen Senatsurteil vom 6. Dezember 1998 (VI ZR 132/88, BGHZ 106, 153 ff.) stand der Kausalzusammenhang im Revisionsverfahren nicht in Frage.

2. Das Berufungsurteil begegnet außerdem hinsichtlich der Verurteilung des Beklagten zu 2 durchgreifenden Bedenken. Die Auffassung des Berufungs-gerichts, dass der Beklagte zu 2 seine Verantwortlichkeit in der zweiten Instanz nicht mehr in Abrede gestellt habe, steht in Widerspruch zur Feststellung im
Tatbestand des Berufungsurteils, dass die Beklagten ihren Vortrag in erster Instanz wiederholt und vertieft haben. Der Beklagte zu 2 hat im Schriftsatz vom 28. September 2009 vorgetragen, dass er die Mutter des Klägers nach dem 19. Mai 1993 nicht mehr behandelt habe. Am 19. Mai 1993 war jedenfalls die Cerclage medizinisch nicht indiziert, weil die Schwangere an einer Infektion litt. Somit traf den Beklagten zu 2 auch keine Aufklärungspflicht. Umstände, aus denen sich eine persönliche Haftung des Beklagten zu 2 im Übrigen ergibt, sind nicht festgestellt. Über den Vortrag des Beklagten zu 2, dass er zum maßgeblichen Zeitpunkt am 24. Mai 1993 nicht mit der Betreuung der Schwangeren befasst war, durfte das Berufungsgericht danach nicht hinweggehen.

III.

Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung und erneuter Entscheidung zurückzuverweisen.